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Interview mit Sylvi, Ulrike, Damaris und Georgia Busch

Dezember 2018


Georgia Busch

Ich bin verheiratet und habe vier erwachsene Kinder, gebe Vorträge / Seminare zu Themen Ernährung, Tanzen und Nähe / Distanz, Vergebung und Erziehung. Des Weiteren predige ich und versuche mich, soweit es mir möglich ist, in der Adventgemeinde in Gießen einzubringen.

Ein besonderes Anliegen ist mir die Sensibilisierung gegen sexuelle Gewalt in verschiedenen Altersgruppen (auch Kindern).

Mein Ziel ist es, Vertrauen zu schaffen und Menschen zu helfen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Für sie möchte ich in unseren Gemeinden ein Ort schaffen, wo sie sich angenommen und wohl fühlen.

Mir liegt die Prävention gegen sexuelle Gewalt und die Sensibilisierung für dieses Thema in unserem Umfeld am Herzen.

Ich weiß, dass ich mich damit einer großen Aufgabe stelle, jedoch bin ich davon überzeugt, dass man etwas bewegen kann.

Sylvis Leben:

Mit sieben Jahren hatte ich einen schweren Unfall. Danach wollte meine Mutter mich nicht mehr allein zu Hause lassen, und ich musste zu einem Bekannten, der mich über vier Jahre lang sexuell missbrauchte. Ich habe aus dieser Zeit keinerlei Erinnerung. Ich vertraute mich meiner Mutter an, aber sie glaubte mir nicht und schlug mich sogar. Danach machte ich einfach zu.

Mit 14 Jahren war ich das erste Mal betrunken, und ich fing an, mit Männern herumzumachen, bis es mit 17 Jahre bei der Entjungferung zur ersten Vergewaltigung kam. Seit dem Tag war ich jeden Tag betrunken, schmiss mich Männern an den Hals, weil ich dachte, es sei Liebe, was ich bekomme. Das ging etwa drei Monate gut, bis ich das erste Mal schwanger wurde – mit Alkohol und Vergewaltigung. Ich wusste nicht, was mit mir gemacht wurde, ich wurde nicht aufgeklärt. Ich ging zum Arzt und wollte nur die Pille bekommen, aber der sagte mir dann, ich sei schwanger. Ich wollte das Kind nicht haben, denn ich war erst 17 Jahre, aber meine Mutter sagte, als Christ gibt es keinen Schwangerschaftsabbruch. Ich bekam das Kind unter Tränen. Ich wollte es nicht, ich lehnte es ab. Gott sei Dank war das Mädchen gesund, aber ich liebte es nicht.

Nach der Geburt ging der Alkoholkonsum weiter ohne Ende, bis 1984. Ich heiratete meinen ersten Mann und wurde wieder schwanger. Dieses Mal bekam ich einen Sohn. Ich war mit allem total überfordert, ging nicht mehr in die Adventgemeinde, aber ich betete jeden Tag zu Gott und las in der Bibel – Gott sei Dank.

1989 kam es zur Scheidung; dann drei Jahre Männer ohne Ende. Dann lernte ich meinen zweiten Mann kennen. Meine Kinder waren mir egal.

Seit 1993 ging ich wieder in die Gemeinde, aber meine Vergangenheit interessierte mich nicht, weil ich im Alkoholrausch war – fast jeden Tag –, aber ich ging dennoch arbeiten.

2002 kam ich das erste Mal vom Alkohol weg, und die Vergangenheit kam zurück, und mir wurde bewusst, was mir angetan wurde. Seit 2005 bin ich in psychologischer Behandlung.

In der Gemeinde habe ich keinen Ansprechpartner. Alles wird kleingeredet: Ich würde übertreiben (oder wie man das nennt). Aber genau das ist mir passiert – immer und immer wieder. Man sagt auch zu mir, ich sei ja selbst schuld an allem.

Damaris Leben:

Mein leiblicher Vater hat mich etwa seit dem fünften Lebensjahr Schätzungsweise zehn Jahre lang sexuell missbraucht. Darüber hinaus erfuhr ich von ihm in meiner Kindheit auch körperliche Gewalt in Form von Schlägen mit dem Kochlöffel oder einem Gürtel. Nicht selten wurde ich dabei so verletzt, dass ich ins Krankenhaus zum Nähen der Wunde musste.

Ich habe diese sexuelle und körperliche Gewalterfahrung jahrelang verdrängt. Erst mit 25 Jahren kamen die Erinnerungen wieder hoch. Es war für mich nicht einfach, das zu verarbeiten und zu verstehen, an das ich mich plötzlich wieder erinnerte. Ich konnte es einfach nicht glauben.

Ich geriet in ein psychisches Tief bekam schwere Depressionen und häufige Panikattacken. Mein Alltag wurde immer schwerer zu bewältigen. Oft fand ich mein Leben sinnlos, sodass ich auch über Selbstmord nachgedacht habe. Doch eine innere Kraft, die mich immer wieder stark machte, und meine kleine Familie gaben mir Kraft, aus den Depressionen herauszukommen.

Durch eine Freundin wurde ich mit dem christlichen Glauben gemäß der Bibel bekannt und entschied mich 1996, mein Leben ganz Jesus anzuvertrauen. Ich lies mich im Sommer 1996 taufen und bin seitdem ein getauftes Mitglied der Gemeinschaft der Siebenden-Tags-Adventisten.

Mein Glaube an Gott und mein Vertrauen auf sein Wort, die Bibel, gibt mir viel Kraft. Für mich ist Gott ein wichtiger Bestandteil meines Lebens.

Mein Glaube an Gott hat mich nicht von meinen Befindlichkeiten und den Folgen der erlittenen sexuellen und körperlichen Gewalt gesund gemacht, jedoch habe ich gelernt, damit – so gut es geht – umzugehen.

Als frühere Betroffene von sexueller Gewalt zeige ich seit einigen Jahren anderen Betroffenen, dass sie mit fachlicher und Gottes Hilfe eine Chance haben, einige dieser schrecklichen Erlebnisse soweit zu verarbeiten, dass sie ein akzeptables Leben führen können. Es gibt Alternativen zum Weg in die Selbstisolation, Depression oder gar in den Selbstmord.

Besonders wichtig ist mir mitzuteilen, dass Gott all das Negative nicht gewollt hat. Er hat die Menschen als freie Wesen erschaffen und nicht als bloße Marionetten, die er dirigiert. Gott ist liebevoll und möchte Betroffenen helfen, seelisch wieder zu heilen. Wir müssen ihm nur vertrauen und uns ihm anvertrauen.

Ulrikes Leben:

Meine ganze Kindheit hindurch spürte ich intuitiv Unstimmigkeiten in meiner Herkunftsfamilie. Mit elf Jahren erlebte ich einen Blinddarmdurchbruch - damals ein medizinisches Todesurteil. Wir waren nicht krankenversichert, weil mein Vater freiberuflich tätig gewesen war und im Gefängnis saß, für eine Operation hatten wir kein Geld. Der Arzt, der mich operierte, sagte wörtlich, es sei ein Wunder, dass ich überlebt hätte. Im Alter von elf Jahren erfuhr ich, dass ich aus einem Vater-Tochter-Inzest entstanden bin, weil mein Vater seine älteste Tochter ab deren siebten Lebensjahr sexuell missbraucht und vergewaltigt hatte. Für eine Abtreibung war es zu spät und ich bin der Beweis eines Verbrechens. In meinem Dorf erfuhr ich sehr viel Ausgrenzung, Diskriminierung und Hass. Ein Kirchenvertreter sagte allen Ernstes, ein solches Kind wie ich könne kein Kind von Gott sein, kein Kind der Liebe. Das fand ich ungeheuerlich. Mein Austritt aus der Kirche war keine Absage an Gott, sondern erst einmal nur eine Befreiung von den konfessionellen Zwängen im Elternhaus. Damals erwachte mein Interesse an Naturgesetzen, unabhängig von Rasse oder Religion. Mehr denn je bin ich heute überzeugt, dass Gott für alle da ist und wirkt, unabhängig von Kultur, Religion und Ritualen. Im Laufe meines Lebens mit unendlich viel Glück, aber auch Leid und tiefer Trauer meiner Seele - immer wieder Krisen - eröffneten mir einige Ereignisse andere Sichtweisen auf das Leben. Eine jahrelange klassische Analyse bei einem Psychotherapeuten leitete eine alles verändernde Aufdeckung und Aufarbeitung meiner Gewalterfahrungen ein. Früh begriff ich, wie viel Glück ich mit guten Ärzten, Helfern, Geistlichen, guten Freunden und Wegbegleitern hatte, und Gottes Bodenpersonal in vielen Funktionen aktiv ist. Das Leben ist ein Geschenk, das wir annehmen oder abweisen können, aber nur einmal bekommen, und nicht leichtsinnig wegwerfen sollten. Eigenverantwortung ist seitdem für mich die höchste, manchmal schwerste Disziplin und Voraussetzung für Freiheit. Mein Engagement für Inzestkinder, vor allem Abstammungsklärung per DNA, hat mir gezeigt, dass jeder Mensch ein vorgeburtliches Leben hat, aber auch seine DNA Auskunft über das Leben der Ahnen, Erzeuger, Vorfahren gibt und traumatische Erlebnisse wie Gewalt und Krieg generativ übertragen werden können. In einschlägiger Literatur über Hirnforschung habe ich alles bestätigt gefunden, was bereits in der Bibel unter religiösen Aspekten berichtet wird. Wir können das Rad nicht neu erfinden, auch wenn die Zeit weitergeht und nicht aufzuhalten ist.

Georgia Busch: Warum werden Themen wie sexuelle Gewalt in den meisten Gemeinden totgeschwiegen?

Damaris:

Ich habe oft erlebt, dass man nichts damit zu tun haben will, und man so tut, als würden diese Themen in den Gemeinden nicht existieren – frei nach dem Motto. Was wir nicht ansprechen, nicht in Betracht ziehen und nicht unmittelbar erlebt haben, das kann nicht sein!

Sylvi:

Weil sexuelle Gewalt in der Gesellschaft sowieso totgeschwiegen wird, warum sollte es dann in den Gemeinden anders sein?

Ulrike:

Schon das Wort Inzest (Blutschande) ist ein Angriff auf die familiäre Gemeinschaft. Das Wort (zer)stört das Bild von der intakten Familie als geschützter Lebensraum. Wenn wir nicht einmal innerhalb der Familie vor sexuellen Übergriffen sicher sein können, dann wo? Inzest leitet Untergang und Zerstörung ein. Sogar Tiere achten Regeln und meiden Inzest.

Georgia Busch: Warum darf man in den Gemeinden nicht über sexuelle Gewalt reden?

Damaris:

Ich denke, dass das etwas zu allgemein gesagt ist. Man darf in unseren Gemeinden schon darüber sprechen, aber nur mit Abstand zu unserer Gemeinschaft. Es ist ja durch unsere heutigen Medien nicht zu übersehen, dass es in unserer Gesellschaft präsent ist.

Sprechen die statistischen Zahlen nicht für sich? Laut der neuen Kriminalstatistik vom 5. Juni 2018 werden 250 Kinder pro Woche missbraucht– das sind etwa 36 Kinder pro Tag. 143 Kinder wurden allein im letzten Jahr getötet – der Großteil war jünger als sechs Jahre alt.

Sylvi:

Zu mir wurde schon oft gesagt: „Die wieder mit ihrem Thema, das will doch keiner hören“, oder: „Die hat immer nur das eine Thema, ich kann es nicht mehr hören.“ Ich treffe auf Unverständnis in meiner Gemeinde, ich werde nicht ernst genommen.

Ulrike:

In keinem anderen Bereich haben wir es mit einer solchen Verdrängung, ja Verschiebung und Tabuisierung zu tun. Der Täter tut alles, um das Opfer mit Lügen zu manipulieren und zum Schweigen anzuhalten. Ein redendes Opfer ist immer eine Bedrohung und Gefahr für ihn und seine Co-Täter. Die Gesellschaft möchte Ruhe und zur Tagesordnung übergehen. So bleibt das Opfer in dieser Kette das schwächste Glied.

Damaris:

Wir haben als Kinder geschwiegen, und nun sollen wir als Erwachsene wieder schweigen. Ist das nicht traurig?

Ich erlebe gerade in unserer Gemeinde, dass ein junger Mann, der eine negative Vergangenheit hat, sofort integriert wurde, und sein Thema für die Gemeindeglieder interessant ist. Er bekommt Raum, um von seiner Vergangenheit zu reden.

Um den Tätern zu helfen, gehen wir ins Gefängnis, und möchten sie wieder auf den rechten Weg bringen und sie möglichst bekehren. Aber wir Betroffenen benötigen dringend Beistand und Hilfe. Wir sind meist psychisch nicht stabil. Ich kann durch die bleibenden Nachwirkungen meiner Gewalterfahrung an vielen Aktivitäten der Gemeinde und Privaten nicht einmal teilnehmen.

Wie oft fühlen wir uns depressiv und wertlos? Somit sehen die Anderen ihre Chance, Macht zu haben, und das wird nach meinen Erfahrungen gern ausgenutzt.

Sylvi:

Mein früherer Pastor, der jetzt schon in Rente ist, fragte mich vor kurzem, als wir allein waren, ob er damals etwas hätte tun können. Ich antwortete ihm: Nein. Als ich sexuell als Kind missbraucht wurde, war er gerade bei uns in der Gemeinde der Pastor, aber alles wurde totgeschwiegen. Ich denke, dass er sich heute Vorwürfe macht, aber ich sagte ihm, es sei nicht seine Schuld, dass ich missbraucht worden bin.

Ulrike:

Man darf über alles reden, schließlich leben wir in der Demokratie. Aber inzestuöse Strukturen sind keine demokratischen, sondern sektenähnlich geschlossene Strukturen, in denen nur Täter und Co-Täter das Sagen haben, über Leben und Tot bestimmen und herrschen. Inzest, inzestuöser Missbrauch ist in erster Hinsicht Machtmissbrauch, einhergehend mit emotionalem, körperlichem und seelischem Missbrauch. Wer es schafft, dieses geschlossene System zu verlassen und es wagt, das Schweigen zu brechen, begibt sich in Gefahr. Der Übergang in ein selbstbestimmtes Leben ist am schwierigsten. Das Opfer erlebt die Realität. Und diese ist „anders grausam“ als der Missbrauch.

Sylvi:

Oft fühle ich mich in der Gemeinde wie eine Aussätzige, die nicht berührt werden darf, weil ich zu viele Gefühle zeige oder weil ich zu sensibel und einfühlsam bin – ich weiß es nicht.

Ulrike:

Manchmal ist der Nachteil der Vorteil und umgekehrt. Ich hatte es insofern leichter oder schwerer, da meine leibliche Mutter und meine Entstehungsgeschichte in einem kleinen Dorf vom ersten Tag meines Lebens an bekannt war. Ich brauchte nicht „den Beweis“ eines Verbrechens erbringen, da ich selbst der Beweis dieses Verbrechens an meiner leiblichen Mutter war. So hatte ich einen zeitlichen Vorsprung. Keiner konnte mir unterstellen, etwa lustvoll dabei gewesen zu sein. Aber noch heute, mehr als sechzig Jahre nach diesem Inzestverbrechen, reagieren die Menschen so schockiert, als wäre es erst gestern gewesen. Und genau so groß ist mein Schmerz bis heute.

Damaris:

Sowie man erfährt, dass ich eine Betroffenen von Sexueller und körperliche Gewalt bin, reagieren alle etwas komisch. Ich denke: Das ist die Unwissenheit und Betroffenheit – dass man nicht weiß, wie man mit uns umgehen soll. Dabei denke ich: Vielleicht sollten sie einfach mit uns so umgehen wie mit allen anderen auch. Denn wir haben zwar Schlimmes erlebt, haben aber auch das Bedürfnis dazuzugehören.

Georgia Busch: Was hättet ihr euch von den Gemeindegliedern gewünscht?

Damaris

Eigentlich nichts Besonderes – einfach nur angenommen zu werden, dazuzugehören wie jeder andere in der Gemeinde mit seiner Einzigartigkeit. Wenn wir einmal genauer hinschauen, erkennen wir, dass jeder von uns eine Eigenart hat; dazu braucht man nicht von sexueller oder körperlicher Gewalt betroffen sein.

Ich wünschte mir, dass man sich einmal mit meiner Vergangenheit beschäftigt hätte, anstatt immer von vornherein abzublocken. Es ging mir nicht darum, dass ich von dem Missbrauch selbst erzählen wollte; mir ging es hier um das jetzt: Wie ich heute damit umgehe und leben muss.

Es wäre schön, wenn man verstehen lernt, dass wir einfach anders sind. Uns wurde durch unsere Vergangenheit das Urvertrauen genommen. Man sollte Geduld mit uns Betroffenen haben und nicht alles, was wir tun, überbewerten.

Sylvi:

Ich wünsche mir: Einfach zu akzeptieren, dass ich so bin, wie ich bin, und nicht ständig irgendwelche Kommentare geben, die nicht hilfreich sind. Ich hätte mir mehr Verständnis gewünscht.

Ulrike:

Ich hätte mir mehr Anerkennung und Unterstützung gewünscht. Nur wenige Male habe ich Einladungen zu Klassentreffen angenommen, doch niemand hat mir Gastfreundschaft angeboten, ich musste in ein Hotel gehen. Das fühlte sich für mich fremd an, befremdend.

Georgia Busch: Wie hätten die Gemeindeglieder hilfreich sein können?

Damaris:

Hilfreich ist ein großes Wort. Ich habe viele Einschränkungen in Formen von Phobien und Depression bezüglich meiner Kindheitserfahrungen. Ich habe Einschränkungen, meine vertraute Umgebung allein zu verlassen. Dadurch ist mein Radius, sehr eingeschränkt. Ich hätte mir gewünscht, dass mich Gemeindeglieder gelegentlich zu Veranstaltungen – soweit es mein Befinden zugelassen hätte – mitgenommen hätten.

Ich kann mich noch gut an die Zeit nach der Entbindung meines jüngsten Kindes erinnern. Diese Geburt war sehr schwer, und ich hatte anfangs wenige Chancen zu überleben, da ich unerklärlicherweise zu viel Blut verloren hatte. Obwohl es einige in meiner damaligen Gemeinde wussten, hat sich doch niemand angeboten, einmal meine Kinder zu Hause zu versorgen und meinem Mann zu unterstützen. Es war eine schwere Zeit für uns.

Sylvi:

Das kann ich gar nicht sagen, ich denke, dass auch die Gemeindeglieder mit ihrem Leben zu kämpfen haben, deshalb möchte ich einfach nur ein wenig Verständnis für meine Situation.

Ulrike:

Ich kenne keinen Menschen, der sich engagiert, weil er Mitleid will. Für meinen Verein M.E.L.I.N.A Inzestkinder/Menschen aus VerGEWALTigung e.V. wünsche ich mir Anerkennung, positive Reflektion, auch finanzielle und tatkräftige Unterstützung.

Georgia Busch: Was hat euch vor allem geholfen, die Gewalterfahrung besser zu verarbeiten?

Damaris:

Ich bin ein Mensch, der Menschen mag. Daher habe ich immer wieder Kontakt gesucht zu anderen Müttern, um mit den Kindern gemeinsam etwas zu unternehmen: auf den Spielplatz gehen, Drachen steigen lassen, Plätzchen backen usw. Diese Art Gemeinschaft hat mir geholfen, meine Vergangenheit zu verarbeiten.

Sylvi:

Ein Pastor sagte mir einmal: „Wer weiß, warum dir gerade das alles widerfahren ist.“ Damals hätte ich ihn deswegen umbringen können. Aus meiner heutigen Sicht kann ich anderen Frauen nur Mut machen, nicht an sich zu verzweifeln, sondern versuchen, sich selbst zu lieben.

Ich sage immer: Wenn ich meinen Glauben an Gott nicht hätte, wäre ich nicht mehr am Leben aufgrund meiner chronischen Suizidgedanken. Ich bin noch in Therapie – nicht um die Vergangenheit weiter zu verarbeiten, sondern mich besser kennenzulernen, warum ich wie reagiert habe usw. Und das werde ich auch noch eine Weile sein. Was mir sehr gut hilft, ist radikale Akzeptanz: Ich nehme mich nicht so wichtig, sondern versuche, für andere da zu sein. Das gibt mir Kraft und Freude.

Ulrike:

Die Arbeit an mir selbst, unterstützt durch professionelle Personen, hat mir am meisten geholfen. Dass ich mich auf den Weg gemacht habe, mich nicht gescheut habe, mir immer wieder professionelle Hilfe zu holen Therapie, gepaart mit den Mitteln der Natur. Auch eigene Achtsamkeit im Umgang mit mir selbst war hilfreich.

Georgia Busch: Wie hat dir der Glaube dabei geholfen?

Damaris:

Gott ist für mich der Größte. Ich habe immer an Gott geglaubt. Als Kind war es eher ein strafender Gott. Ich hatte immer Angst, Gott nicht gut genug zu sein.

Als ich auf meiner Arbeitsstelle als Kinderfrau eine Bibel zu Weihnachten 1989 geschenkt bekommen habe, war ich so überrascht und neugierig, dass ich sofort anfing, darin zu lesen. Aber es war mir alles so neu und fremd. So las ich in der Bibel, wie es für mich üblich war, und fing von vorne an zu lesen. Aber ich fand nirgends die Stellen, die ich auf Kacheln oder sonst wo in schöner Schrift bei meinen christlichen Freunden lesen konnte. Somit fing die Suche an, jemanden zu finden, der mir zeigen konnte, wie ich mit diesem Buch zurechtkomme.

Nach meiner ersten Bibelstunde im Jahre 1994 war ich so begeistert. Ich konnte nun die Bibeltexte finden, und das machte mich glücklich. Ich lernte so viel über Gott und seine Liebe kennen, dass ich wusste: Das ist mein Weg. Ich möchte Gottes Kind sein, und er soll mein Mittelpunkt werden. Somit ließ ich mich im Jahr 1996 taufen.

Doch gesund hat mich der Glaube an Gott nicht gemacht, aber er hat mich unterstützt und mir Kraft gegeben weiterzumachen. Besonders die letzten Jahre hat er viel an mir gewirkt, was ich nie für möglich gehalten hätte. Besonders, mich für die Aufgabe zu stärken, gegen sexuelle und körperliche Gewalt vorzugehen, ist sein Verdienst. Er steht mir zur Seite, denn ohne Gott wäre mir nichts möglich. Er hat in allem einen Sinn, auch wenn wir ihn anfangs nicht erkennen können.

Sylvi:

Gott ist die Nummer eins in meinem Herzen, und das versuche ich auch zu leben. Ich durfte mit Gott viele Erfahrungen erleben, die ich an andere Menschen weitergebe. Ich lernte ganz viele Frauen kennen, die selbst ähnlich wie ich betroffen sind. Ich mag nicht sagen, dass ich ein Opfer bin, sondern ich bezeichne mich als Betroffene. Ich habe mit Gott viel erlebt und werde es weiterhin, weil Gott mich liebt, so wie ich bin.

Ich möchte anderen Frauen weiterhin helfen, mit ihnen beten. Ich versuche, mit meiner offenen Art die Menschen zu erreichen. Gott hat mir Frauen in den Weg gestellt, denen ich helfen kann, und das macht mich dankbar. Ich darf mein Leben aus Gottes Hand nehmen. Er hat mir gezeigt, dass es sich lohnt zu leben und zu lieben – und vor allem zu vergeben.

Ich bin Gott sehr dankbar, dass er mich so gemacht hat, wie ich bin, und ich anderen vergeben durfte. Ich bete dafür, dass wir einander in Liebe begegnen, auch anderen Gemeindegliedern. Ich bete um Versöhnung, denn jede Verurteilung eines Menschen – egal was er gemacht hat – ist, als ob man ihn töten würde. Gott ist ein Gott der Liebe, und das möchte ich weitergeben. Und er liebt alle Menschen, ganz gleich, was derjenige gemacht hat. Deshalb bete ich auch für die Täter.

Ulrike:

Der Glaube an Gott führt ja auch zum Glauben an sich selbst. Alles beginnt bei einem selbst. Wenn ich davon ausgehe, dass mir das Leben geschenkt wurde - ich mich also nicht für meine Existenz rechtfertigen muss - habe ich einen ganz guten Ausgangspunkt und Grundlage für einen achtsamen guten Weg.

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