Es war erschreckend, als ich mich damals wieder an die schlimmen Ereignisse aus meiner Kindheit erinnern konnte. Ich war damals Mitte 20, als diese Erinnerungen nach verschiedenen Angstzuständen wieder ins Bewusstsein kamen. Diese Gewalterfahrungen habe ich in jahrzehntelanger Therapie aufgearbeitet.
Da ich durch die Gewalterfahrungen eine Menge Einschränkungen habe, die mein Leben beeinflussen, ist es wohl auch nicht zu verdenken, dass ich einige Zeit brauchte um meinen Vater, der mir das angetan hat zu vergeben, ebenso meine Mutter, die einfach nur weggeschaut hat.
Ich hatte meinen Vater durch eine Mitteilung damals per Brief, dass ich keinen Kontakt mehr mit ihm möchte und den Grund dazu auch genannt. Um mich von weiteren emotionalen Verletzungen zu schützen. Nicht nur an mich, sondern auch gegenüber meinen Kindern.
Durch einen Prozess, der Jahre gedauert hat, habe ich für mich erfahren, was Vergeben bedeutet. Es war ein Prozess, den ich selbst eingeleitet habe, als ich dazu bereit war. Erst als ich bereit war, diesen Schritt zu gehen, habe ich mich für dieses Thema Vergebung geöffnet und ließ es in mir wachsen – in kleinen Schritten, bis ich mich immer freier fühlte und spürte: Jetzt ist es so weit.
Da ich zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr mit meinem Vater hatte, verspürte ich das Bedürfnis, meinem Vater zu schreiben, dass ich ihn vergeben hatte. Knapp drei Jahre nach dem ersten Brief schrieb ich ihm daher erneut und sandte den Brief per Post an ihn.
Ich habe von meinem Vater auf den Inhalt dieses Briefes nie eine Antwort bekommen, aber er war für mich und meinen Verarbeitungsprozess wichtig. Gefreut hätte es mich, wenn er danach einen Schritt auf mich zugegangen wäre und um Vergebung gebeten oder geäußert hätte, dass es ihm leidtut. Mein Vater hat das bis heute nicht getan.
Als ich meinem Vater vergeben hatte, fühlte ich mich jedoch freier.
Ich erlebte die heilende Kraft der Vergebung, die mir inneren Frieden und Ruhe gab. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, innerlich von etwas getrennt zu sein. Ich spürte, dass ich von einer inneren Last befreit war. Ich fühlte mich Gott und meinem Glauben verbunden. Ich weiß, dass dieses Vergeben für mich ein wichtiger Schritt war, um mir selbst nicht im Weg zu stehen. Es hat mir geholfen, Gott näher zu sein und seine Liebe zu spüren. Meine Beziehung zu Gott war mir dabei das Wichtigste.
Der christliche Glaube war anfangs keine Hilf, dem Täter zu vergeben. Die Vergebung stand zunächst wie eine unerfüllbare Forderung vor mir, da ich von dem damaligen Pastor des Öfteren dazu aufgefordert wurde. Er ließ allerlei Bibelstellen und Begebenheiten ins Bibelstudium einfließen, damit ich ein besseres Verständnis vom Vergeben bekomme und die Notwendigkeit einsehe, das zu vergeben. Das hat mich erst einmal abgeschreckt und wütend gemacht.
Es sah für mich anfangs, bei diesem ganzen Drängen zu vergeben, wie eine Pflichtübung aus, die ich tun musste, um zu der Glaubensgemeinschaft zu gehören. Jedoch erkannte ich anhand der Bibel, dass es für mein Christseins unverzichtbar ist. Ich wollte ein Kind Gottes sein und in Gott einen Vater haben, der mir ebenfalls vergibt.
Mein Glauben war mir so wichtig, dass ich es für mich als wichtig empfunden habe, Gott alles zu übergeben und ich kein Recht hatte, den Richter zu spielen. Nur er ist dazu befugt. Nur Gott kann mich tragen und mich in meinem Leben führen und überlebensfähig machen.
Erst viel später habe ich erkannt, dass viele Pastoren, Gemeinden und Christen einige biblische Aussagen über Vergebung missverstanden haben und sie als Forderung an Andere formulieren, vergeben zu müssen.
Wahrscheinlich auch angeregt durch den Bibeltext, „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind.“ (Matthäus 6,12 NLB)
Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass das Vaterunser ein Mustergebet für praktizierende Christen, d.h. für Gläubige, die Jesus Christus als ihren Erlöser und Herrn kennen gelernt und angenommen haben ist.
Der christliche Glaube kann aber durchaus eine Hilfe sein, sich zu entschließen, auch in Fällen von Gewalterfahrung dem Täter zu vergeben.
Ich habe anhand der Bibel, die ich durch verschiedene Bibelstunden und dem eigenen Bibellesen kennen lernte, ein steigendes Interesse bekommen, dem Täter zu vergeben – besonders als ich die Bibel das erste Mal von vorne nach hinten durchgelesen habe. Ich wurde immer wieder überwältigt von dem starken Glauben und die Vergebung verschiedener Persönlichkeiten in der Bibel, die anderen deren Schuld vergeben haben.
Ich persönlich habe erfahren, dass mir die Vergebung dem Täter gegenüber inneren Frieden gegeben hat, der sich positiv auf meine Genesung ausgewirkt hat. Ohne diese Vergebung war ich gefangen in mir selbst. Sie hat mich von einer negativen Macht in mir befreit.
Diese Vergebung war jedoch ein Prozess, der sich über Jahre bei mir hingezogen hat. Es war der Weg, den ich aus Dankbarkeit gegenüber Gott und Jesus Christus gehen wollte. Wobei aber –wie schon gesagt – Gott mich nicht dazu zwingt; es ist aber eine hilfreiche Option, die er mir anbietet.
Der Glaube an und die Hinwendung zu Gott ist eine ganz persönliche Entscheidung, ob und wann wir sie vollziehen wollen. Ich habe sie nie bereut; sie ist mir sehr zum Segen geworden in vielerlei Hinsicht – nicht nur in Bezug auf die Verarbeitung der Gewalterfahrung.
Muss ich mir auch selbst vergeben?
Uns selbst zu verurteilen ist oft grausamer, als wenn Kritik von außen kommt. Wir halten uns oft ständig vor Augen, wie schlimm es war, was wir da getan haben, und können es nicht loslassen.
Doch dies ist die falsche Perspektive. Machen wir uns bewusst: Auch wenn wir uns mit Händen und Füssen gewehrt haben oder hätten, ganz laut „Nein“ geschrienen hätten – der Täter hört erst auf, wenn er keine Lust mehr verspürt, wenn man zum Beispiel zu alt für ihn geworden ist.
Mein Feedback:
Dem Täter zu vergeben, bringt mich dem Täter gegenüber aus der Opferrolle heraus, denn ich schwinge mich damit in die Richterrolle auf: Wie ein Richter stelle ich die Schuldhaftigkeit und Verwerflichkeit der Taten fest, verzichte dann jedoch auf eine Verurteilung und Bestrafung des Täters meinerseits.
Meine Vergebung konnte erst erfolgen, als ich verschiedene Punkt des Aufarbeitungsprozesses der Gewalterfahrung aufgearbeitet habe:
Die beste Darstellung des Aufarbeitungsprozesses findet sich im Buch Trotz allem (S. 100ff. am Beginn von Teil 2).
Die Entscheidung für die Aufarbeitung
Chaos
Das Erinnern
Glauben, dass es geschehen ist
Das Schweigen brechen
Verstehen, dass es nicht deine Schuld war
Kontakt herstellen mit dem „inneren Kind“
Schmerz und Trauer
Zorn
Enthüllung und die Wahrheit aussprechen
Rückhalt durch Spiritualität
Verarbeiten und Weitergehen
Als Opfer war es für mich wichtig, dass sich die Frage der Vergebung nicht stellt, solange ich nicht zumindest das 10. Stadium durchgemacht habe. Jedoch auch, wenn ich dann nicht dazu bereit bin, ist das völlig okay.
Gott liebt mich so wie ich bin, und Gott weiß um meine Gefühle. Vergebung ist kein leichtes für uns Opfer, es ist uns nur möglich, wenn ich als Opfer dazu bereit bin. Und niemand anderes als ich selber kann das entscheiden.
© 2021 Damaris Hope, Opfer von sexueller und körperlicher Gewalt (Bücher: Meine Tränen sind versiegt; ISBN-13: 978-3-95493-177-4
© 2021 Kinder dürfen stark sein - Mit meiner Erziehungsstruktur durchbrach ich den Teufelskreis von Inzest, und bewahrte meine Kinder vor sexuellen Übergriffen“ E-Pub: 9783959249485 MobiPocket: 783959249492)